Doppelte Bürde für Pflegepersonal 

Seit rund zehn Jahren nimmt die Gewalt gegen Pflegepersonal zu. Die aufeinanderfolgenden Wellen von Covid-19 haben das Phänomen noch verschärft, und angesichts der Gereiztheit, Wut oder Aggressivität der Patienten sind die Teams umso hilfloser, als sie in den letzten zwei Jahren stark gefordert waren. Eine weitere, weniger häufig erwähnte Problematik, die eine wachsende Zahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betrifft, sind sexuelle Übergriffe. 

Die Problematik ist nicht neu. Bereits 2016 leitete das Universitätsspital Genf (HUG) eine Reihe von Präventiv-, Sicherheits- und Justizmassnahmen ein, nachdem es einen Anstieg der Gewalt gegen sein Pflegepersonal festgestellt hatte. Sechs Jahre später hat sich die Lage landesweit weiter verschlechtert, was vor allem auf die aufeinanderfolgenden Coronawellen zurückzuführen ist, die das Gesundheitssystem unter Druck gesetzt haben.

Ein zunehmend angstbesetztes Klima

«Die Teams sehen sich mit einer Patientengruppe konfrontiert, die auf unterschiedliche Weise von der Pandemie betroffen ist. Bei einigen wurde die Behandlung abgebrochen, andere erhielten schlechte Nachrichten in Form einer späten Diagnose. Wieder andere müssen aufgrund des chronischen Personalmangels in einigen Krankenhausabteilungen mit langen Wartezeiten rechnen. Jeder von ihnen ist auf seine Weise ein Kollateralopfer der Gesundheitskrise, daran besteht kein Zweifel. Wir dürfen aber auch die Pflegekräfte nicht vergessen: Sie sind es, die mit zunehmender Gereiztheit, Wut und Aggressivität gegenüber stehen, welche sich immer häufiger in verbalen Drohungen oder tätlichen Angriffen äussern», so David Paulou, Direktor von Medicalis.

Diese Verschlechterung tritt vor dem allgemeineren Hintergrund einer Gesellschaft auf, die sich in einem Klima der Angst bewegt. Auf die Pandemie folgte der Krieg in der Ukraine, der zu einer Verteuerung und sozialen Verunsicherung führte, die alle Bevölkerungsschichten betreffen. Ausserdem sind rechtliche Schritte gegen Pflegeeinrichtungen an der Tagesordnung, was die Situation besonders heikel macht: «Der Personalmangel setzt die Teams unter Druck, während sie gleichzeitig mit zunehmender Gewalt und der wachsenden Gefahr eines Gerichtsverfahrens konfrontiert sind. Im Klartext heisst das, dass sie anfälliger sind und sich keine Fehler mehr erlauben dürfen.»

Risikosituationen schnell erkennen

Medicalis ist auf die Vermittlung von Festanstellungen und temporären Einsätzen in Gesundheits- und Pflegeberufen spezialisiert und bietet zahlreiche Weiterbildungsmöglichkeiten an. Eine davon befasst sich eben mit diesem Thema: dem richtigen Umgang mit Aggressivität bei Patienten und Angehörigen.

Schulungsleiter Antoine Choffat empfiehlt sie allen, die die Anzeichen von Aggression erkennen und sich vor Gewalt schützen wollen. «Eine Situation eskaliert in der Regel innerhalb weniger Sekunden. Ein Wort, eine Geste, und die Stimmung kippt. Deshalb ist es wichtig, Hinweise auf ein potenziell aggressives Verhalten schnell erkennen zu können. Dabei bevorzugen wir einen Ansatz, der sowohl theoretisch (auf der Grundlage umfangreicher nordamerikanischer Literatur) als auch praktisch (in Form von Gruppenübungen) ist», erklärt Antoine Choffat, der den Kurs zusammen mit einem Kollegen leitet.

Unangemessenes Verhalten

Durch die Module, die er im Ausbildungszentrum Medicalis in Morges (Waadt) leitet, steht Antoine Choffat in regelmässigem Kontakt mit den Teams, die täglich mit Patienten arbeiten. Was hat er aus den Gesprächen gelernt? Die Anzahl der Personen, die ihren Angaben zufolge sexuelle Übergriffe erlebt haben, ist sehr hoch. «Wir wussten, dass die Problematik bestand, aber nicht in diesem Ausmass. Es gibt immer wieder Berichte über unangemessene Gesten, die auf Gesäss, Brust oder Intimbereich zielen und sowohl Frauen als auch Männer betreffen. Diese Übergriffe werden meist gemeldet, aber der Druck, unter dem die Teams arbeiten, führt nicht unbedingt dazu, dass ihnen auf angemessene Weise nachgegangen wird.»

Die von ihm gesammelten Zeugenaussagen enthalten Berichte, die das Blut in den Adern gefrieren lassen und an denen die Opfer noch viele Monate nach den Ereignissen zu knabbern haben. Manchmal kommt es bei der Körperpflege zu einem Übergriff, aber die Vorkommnisse sind vielfältig und erfordern von den Fachkräften eine ständige Aufmerksamkeit. «Es gibt keine einfache Lösung für dieses Problem. Eine Idee wäre vielleicht, in allen Gesundheitseinrichtungen klar definierte Protokolle einzuführen, damit diesen Fällen die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wird», schliesst Antoine Choffat.

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